„Common sense versus Ökonometrie?“

16.11.2012 | Beiträge, Finanzkrise, Kommentare, Verfassungsbeschwerden, Wissenschaftliche Beiträge

Ein neues Szenario der Bertelsmann Stiftung zum Break-up der Eurozone soll für Angst sorgen

Markus C. Kerber[1]

Dass über den Break-up der Eurozone nunmehr diskutiert wird, ist bereits für sich genommen ein Fortschritt. Denn diese Debatte weist jene Teilnehmer der öffentlichen Diskussion in die Schranken, die – wie der unverbesserliche deutsche Finanzminister, Dr. Schäuble – die Eurorettungspolitik um jeden Preis als alternativlos hingestellt haben. Demokratien zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass es immer Alternativen zur Regierungspolitik gibt.

Da Europa nicht nur ein großer Binnenmarkt ist, sondern auch auf dem Gebiet der Herausbildung einer europäischen öffentlichen Meinung große Fortschritte macht, kommen Impulse für diese Diskussion – wenn nicht aus dem eigenen Land – so aus den Nachbarländern, die aufgrund unterschiedlicher Interessen und Einwendungen freier und ungezwungener über das Tabuthema „Euro“ zu diskutieren bereit sind. Dazu gehörte auch der Wettbewerb, den Lord Wolfson 2011 ins Leben gerufen hatte, um das optimale Break-up-Szenario, also die besten Modalitäten zur Abwicklung der Eurozone von Wissenschaftlern ausarbeiten zu lassen. Herausgekommen ist nichts Weltbewegendes. Der Gewinner kann sich als Empfänger einer hohen Summe Geld glücklich schätzen und hat dafür einen Teil seines ohnehin bestehenden Research in neuem Gewande Lord Wolfson zur Verfügung gestellt. Sein Ergebnis war nicht nur die Machbarkeit und Wünschbarkeit, sondern auch die Quantifizierbarkeit jener Risiken, die bei der Abwicklung der Eurozone unter Wiedereinführung der nationalen Währungen eintreten würden.

Nachdem dieser Vorschlag aus dem Vereinigten Königreich nicht mal auf dem Heimatmarkt für dauerhafte Schlagzeilen, geschweige denn eine akademische Diskussion gesorgt hatte, legte die Bertelsmann Stiftung eine Studie vor, die das Prognos-Institut in ihrem Auftrag vorgenommen hat.[2] In dieser Studie werden drei Szenarien mit Hilfe eines bei Prognos entwickelten ökonometrischen Modells quantifiziert: zum einen der Austritt Griechenlands, verbunden mit einem Staatsbankrott des Landes und einem erneuten Schuldenschnitt. In einem zweiten Szenario wird der Staatsbankrott an Griechenland und Portugal betrachtet, obschon der Staatsbankrott des letztgenannten Landes überhaupt nicht auf der Tagesordnung steht. In einem dritten Szenario werden der Staatsbankrott von Griechenland, Portugal und Spanien mit entsprechenden Schuldenschnitten betrachtet und schließlich – Wie kann es anders sein? – wird der GAU, also der Austritt von Griechenland, Portugal, Spanien und Italien, auf seine Folgen für die europäische Wirtschaft und die Weltwirtschaft untersucht.

Den Berechnungen liegt das umfangreiche ökonometrische VIEW-Modell des Prognos-Instituts zugrunde, das die Volkswirtschaften von 42 Industrie- und Schwellenländern auf Basis empirischer Daten über einen langen Zeitraum und in hoher Detaillierung abzubilden vermag. Für die Berechnung der Ausstiegskosten der vier Länder wurden im Sinne der Vergleichbarkeit einheitliche Exit-Annahmen verwendet. So wurde für alle Länder ein 60%iger Schuldenschnitt bei privaten wie öffentlichen Gläubigern angenommen und eine 50%ige Abwertung der jeweils neu eingeführten Währungen in den Austrittsländern gegenüber dem Euro unterstellt.

Bereits an dieser Stelle kann der kritische Leser einhaken und die Frage stellen, ob politisch gesehen der stets freiwillige Austritt eines EWU-Landes für die betreffenden Länder finanziell überhaupt zu schultern ist. Würden nämlich Griechenland, Italien, Spanien oder Portugal austreten, so bliebe ihnen trotz eines entsprechenden Schuldenschnitts nicht die Tragung der Restschulden in Euro erspart. Denn die internationale Gemeinschaft würde gewiss nicht die Konvertierung der Euroaltschulden – noch dazu zu einer ungünstigen Parität – akzeptieren. Daher ist aus Sicht der vier genannten Länder ein Austritt aus der Eurozone finanziell das schlechteste Szenario, das man sich denken kann, und zwar unabhängig davon, welche Ansteckungswirkungen (contagion) ein solcher Austritt für die umliegenden Volkswirtschaften haben würde. Da Länder nur freiwillig austreten können und die EWU keine Möglichkeit des Ausschlusses vorsieht, hätten sich die Studie von Prognos und ihr Auftraggeber, die Bertelsmann Stiftung, mit dieser Unterstellung der Möglichkeit eines freiwilligen Austritts entgegen der Interessenlage der Länder beschäftigen müssen.

Und damit nicht genug, denn die Berechnungen von Prognos kommen zu dem Ergebnis, dass der isolierte Austritt Griechenlands noch zu einem erträglichen Wachstumsverlust, insb. für die Bundesrepublik Deutschland, mit „73 Mrd. € über acht Jahre“, also einem Wachstumsverlust von etwa 900 € pro Bundesbürger über acht Jahre, verbunden sein würde. Käme es zu einem Austritt von mehreren Ländern, würden die Wachstumsverluste indessen sehr viel höher ausfallen und – so die Studie – dramatische Größenordnungen annehmen. Verließe bspw. auch Spanien die Eurozone, würden sich die Wachstumseinbußen in Deutschland bis 2020 auf  58 Mrd. € belaufen. Der Verzicht auf Forderungen würde eine Höhe von 266 Mrd. € betragen. Für die USA ist der Wachstumsverlust mit 1,2 Bio. € angesetzt.

Man kann, ohne in die Logik des ökonometrischen Modells einzudringen und dessen einzelne Schräubchen zu kennen, diese Zahlen weder nachvollziehen noch im Einzelnen kritisieren. Fest steht indessen, dass zu einer seriösen Studie insb. eine Auseinandersetzung mit der Fragestellung gehört hätte, was passiert, wenn die von Deutschland und den anderen Leistungsbilanzüberschussländern eingegangenen Risiken aufgrund der unterschiedlichen Eurorettungsmechanismen real eintreten. Was würde Deutschland an neuen Schulden zu schultern haben, wenn die im Rahmen der europäischen Finanzierungsfazilität ausgeliehenen Kredite und die künftig im Rahmen des Europäischen Stabilisierungsmechanismus ausgeliehenen Gelder nicht zurückgezahlt würden? Noch schlimmer wäre das Szenario, wenn der Europäische Stabilisierungsmechanismus aufgrund eines Mismatches bei der Refinanzierung in eine Schieflage geriete. Dann wäre im Zweifel die Risikobegrenzung, die das Bundesverfassungsgericht am 12. September 2012 auf max. 190 Mrd. € festgesetzt hat, jedenfalls ökonomisch kaum noch haltbar, wenn man nicht den Zusammenbruch der gesamten eng miteinander verbundenen Rettungsmaßnahmen in Kauf nehmen will.

Dieser Vergleich der Folgen eines Austritts einzelner Euroländer aus der Eurozone mit den finanziellen Belastungen für die Leistungsbilanzüberschussländer für den Fall der Nicht-Rettbarkeit der Finanznotstandsländer wird in der Studie von Prognos vollständig unterschlagen. Daher lässt sich auch die Schlussfolgerung des Vorstandsvorsitzenden der Bertelsmann Stiftung, Aart de Geus, nicht nachvollziehen. Er kommentiert die Studie mit den Worten: „Wir müssen jetzt in der aktuellen Situation unbedingt den Ausbruch eines Flächenbrandes verhindern.“

Auffällig an der Studie und ihrer Kommunikation durch die Bertelsmann Stiftung ist der Zeitpunkt der Publikation. Diese geschieht genau in jenem Moment, in dem sich die Bundesregierung, geführt von Bundeskanzlerin und Bundesfinanzminister, dazu durchgerungen hatte, bis zur Bundestagswahl 2013 Griechenland nahezu eine Garantie des finanziellen Beistandes zu gewähren – also das Land auf gar keinen Fall aus der Eurozone austreten zu lassen. Die deutsche Öffentlichkeit ist über die enge Beziehung von Frau Liz Mohn, der Herrin des Bertelsmann-Konzerns, und der deutschen Bundeskanzlerin gut informiert. Zeitpunkt und Inhalt der Studie lassen auf einen Fall von Frauensolidarität schließen.



[1] Prof. Dr. iur. TU Berlin, Institut für VWL und Wirtschaftsrecht, Gastprofessor am I.E.P. Paris.

[2] Dr. Petersen, Thieß, Bertelsmann Stiftung „Zukunft Soziale Marktwirtschaft“ Policy Brief: 2012/06

 

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