Warum unser Nein zum Lissabon-Vertrag ein Ja zu Europa ist

22.06.2009 | Kommentare

Prof. Dr. Dr. Dieter Spethmann

Es ist politisch unkorrekt, aber verfassungsrechtlich geboten, den Lissabon-Vertrag im Lichte von Demokratiegebot und Gewaltenteilung zu würdigen. Diese Würdigung muß jene Erfahrungen auswerten, die seit dem Kompetenzzuwachs durch den Maastricht-Vertrag gesammelt wurden. Die seitdem gewonnenen Erfahrungen im Umgang der Gemeinschaftsorgane mit den ihnen übertragenen und damit irreversibel anvertrauten Hoheitsrechten sind triste:

Die Kommission hat ihr Initiativmonopol mißbraucht. Auf Grund der normativen Unbestimmtheit ihrer Handlungsfelder und der Inflation ihrer Kompetenzen sowie deren Definition an hand von Zielen ist sie zu einer regierungsähnlichen Behörde geworden. Als solche hat sie sich der politischen Rechenschaft und der rechtlichen Bindung entwunden. Das Bewusstsein ihrer fachlich-operativen Überlegenheit gegenüber Rat und Parlament, ihrer Doppelrolle in entscheidenden Gemeinschaftspolitiken (Wettbewerb und Binnenmarkt) als federführender Gesetzgeber und exekutiver Gesetzesanwender haben sie ermutigt, im Namen des jeweiligen gemeinschaftsrechtlichen Politik-Ziels (Binnenmarkt, Wettbewerb, ausgeglichene öffentliche Haushalte, Umweltschutz, Netzwerke etc)

  • Kompetenzen wahrzunehmen, die ihr zweifelsfrei (noch) nicht zustehen;
  • den EG-Vertrag im Wege der Änderung des Sekundärrechts materiellrechtlich faktisch zu modifizieren;
  • Sekundärrecht im Lichte politische Entwicklungen zu „flexibilisieren“ und damit das Ziel des Primärrechts (so beim Stabilitätspakt);
  • die Rechtsanwendung durch Erfindung ökonomischer Doktrinen sowie die legislative Schaffung von Evaluierungsermessen wie im Eon- Fall diskretionär zu gestalten;
  • die Anwendung des (Wettbewerbs)- Rechts ganz zu  unterlassen und die Augen zu verschliessen vor wettbewerblichen Gefahrenlagen,die – wie im GDF/SUEZ Fusionsfall- politische sensible Märkte in souveränistischen Mitgliedstaaten wie Frankreich betreffen.

Darf der deutsche verfassungsändernde Gesetzgeber einem Staatenverbund mit derartiger Machtkonzentration in den Händen einer Behörde, die sich eindeutig als Regierung versteht und faktisch die Freiheit vom Recht verlangt, zusätzliche Kompetenzen einräumen ?

Wir sagen Nein. Daher fühlen wir uns verpflichtet, an die Bedingungen des Maastricht-Urteils zu erinnern. Demnach musste die EU – jenseits von demokratischen Kompensationen – Rechtsgemeinschaft sein. Als Währungsunion muss sie der Stabilität verpflichtet sein. Ferner sollte der EU keine Befugnis zukommen, aus eigenem Recht ihre Zuständigkeiten zu erweitern. Vielmehr blieben die Mitgliedsländer Herren der Verträge und damit der Integrationsdynamik.

Seit 1994 ist genau das Gegenteil eingetreten: Die Kommission ist nicht länger Hüterin der Verträge, sondern setzt mit großen Erfolg alles daran, Herrin derselben zu werden. Die ökonomische Analyse von politischen Institutionen liefert hierfür eine plausible Erklärung: Je mehr Befugnisse eine Institution ohne gesonderte Legitimation herzuleiten vermag, umso größer ist der Anreiz, auf diesem Weg fortzuschreiten. Die totale Machtkonzentration ist unabänderlich die Folge.

Kurzum: Maastricht hat einen Leviathan geboren, der im Namen Europas die demokratische Legitimität seines Handelns für überflüssig hält und die Teilhabe des deutschen Volkes an der europäischen Integration entleert hat.

Brüssel ist zu einem Gewalten-Konglomerat geworden. Daß Gewalten miteinander und ineinander verschränkt sind, gehört zum grundgesetzlichen Standard der gem. Art. 79 III nicht abbedungen werden kann. Genau diese Minimalia der Gewalteneilung sind im Brüsseler Regime systemischer Gewaltenvermischung untergegangen. Es mag sein, daß die EU ein Staatenverbund sui generis ist. Dies rechtfertigt angesichts der ihr übertragenen Hoheitsrechte nicht, das Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung durch ein namenslose Regime selbstreferenzieller Eliten zu ersetzen.

Was in den 60 er Jahren ein Segen war, als die Europäischen Gemeinschaft laufen lernte, ist spätestens mit dem Maastricht–Vertrag zu einem Fluch geworden. Die Kommission hat unter Berufung auf das Ziel der europäischen Integration eine zentralisierende, rechtszersetzende Dynamik entwickelt Diese hat genau das Gegenteil des mit der bedingten Zustimmung gewährten verfassungsgerichtlichem „Vertrauensvorschuß“ von 1993 bewirkt: die Integration ist zu einem kaum mehr steuerbaren Automatismus geworden.

Angesichts dieser tristen Bilanz seit Inkafttreten des Maastricht-Vertrages stellt sich nicht allein die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit weiterer massiver Übertragungen von Hoheitsrechten. Vielmehr stehen wir vor dem Rätsel, dass die Bundesregierung unter Federführung des Auswärtigen Amtes den Lissabon–Vertrag überhaupt verhandelt hat und diesen nunmehr als politische Leistung preist

Uns liegt daran, die europäische Integration in Bahnen zu lenken, die die Zustimmungsbedingungen des Maastricht-Urteils wieder erfüllbar machen und die nachhaltige Funktionalität der Europäischen Gemeinschaft gewährleisten. Mit der Inkraftsetzung des Lissabon-Vertrags würde diese Chance verspielt.

Das Nein zum Lissabon-Vertrag sollte einhergehen mit einer Reform der Organisationsgewalt der Bundesregierung bei Europa-Politik. Ohne die Federführung des Auswärtigen Amtes wäre es nie zum Machwerk des Lissabon-Vertrages gekommen. In seltsamer Kontinuität von Genscher zu Kinkel und von Fischer bis zu Steinmeier fühlt sich das AA dem „gesamteuropäischen Interesse“ mehr verpflichtet als den deutschen Staatsbürgern. Europapolitisch steht die Entmachtung des AA also auf der Tagesordnung.

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